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Das Heils-Versprechen der hohen Tarifbindung: Falsche Annahme, falsche Lösung
In dem am 06.04.23 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen Namensbeitrag spricht NORDMETALL-Hauptgeschäftsführer Dr. Nico Fickinger über die Richtlinie zur Tarifbindung, auf die sich in Brüssel Parlament und Rat geeinigt haben.
Eines der wenigen noch einzulösenden politischen Heilsversprechen lautet, dass die moderne Arbeitswelt an einer hohen Tarifbindung genesen werde: in Brüssel haben sich Parlament und Rat auf eine Richtlinie geeinigt, nach der jeder Mitgliedstaat dafür Sorge tragen soll, eine tarifvertragliche Abdeckung von mindestens 80 Prozent sicherzustellen.
Auch in Berlin hat sich die Ampelkoalition dem Ziel verschrieben, die Tarifbindung zu stärken – unter anderem indem sie öffentliche Aufträge des Bundes nur an tarifgebundene Firmen vergeben und die Zuwanderung aus Drittstaaten an die Einhaltung von Tarifverträgen binden will. Begründung: Man müsse dafür sorgen, dass der Rückgang der Tarifbindung gestoppt, überall fair entlohnt und ein Unterbietungswettbewerb durch billige ausländische Arbeitskräfte verhindert werde. Schon das selbst erteilte Mandat fußt auf falschen Annahmen: Erstens droht in Zeiten von Fachkräftemangel (und hoher Inflation) beim Lohn kein unterbietungs-, sondern ein Überbietungswettbewerb. Zweitens ist, zumindest in der norddeutschen Metall- und Elektroindustrie, kein besorgniserregender Rückgang der Tarifbindung zu beobachten. Vielmehr ist dort die Zahl der Beschäftigten, die vom Flächentarif erfasst werden, seit Jahren nahezu stabil. Drittens sind 80 oder 100 Prozent Tarifbindung keine geeignete Zielgröße und wurden auch in der M+E-Industrie seit mehr als 100 Jahren noch nie erreicht. Eine so hohe Abdeckung wäre nur bei einer Pflichtmitgliedschaft möglich (und besteht derzeit nur in der Zeitarbeit, die aber paradoxerweise von den Gewerkschaften besonders verunglimpft wird); in freiwillig verfassten Organisationen – von Kirchen über Parteien bis zu Gewerkschaften – ist Mitgliederschwund als nötiger korrekturposten systemimmanent.
Auch die vermeintliche Lösung ist schädlich, willkürlich und kontraproduktiv: schädlich, weil eine hundertprozentige Tarifbindung in der stark exportorientierten M+E-Industrie – selbst im günstigsten Szenario – wegen des daraus folgenden Kostenschubs zu einem Wegfall von 350.000 Arbeitsplätzen und zur Aufgabe von jedem fünften mittelständischen Betrieb führen würde. Willkürlich, weil eine tarifliche Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden, wie sie in der allgemein als vorbildlich eingestuften Chemischen Industrie gilt, von der IG Metall, die eine 35-Stunden-Woche erkämpft hat, sofort als unterlaufen von Tarifverträgen oder Arbeitszeit-Diebstahl gebrandmarkt werden würde. Kontraproduktiv, weil der Anreiz, sich in Arbeitgeberverbänden zu organisieren, schwindet, je stärker der Staat die Arbeitsbeziehungen und Vergütungsbedingungen regelt. Mit ihren Eingriffen in die Tarifautonomie verschärft die Politik also das Trittbrettfahrertum, das sie eigentlich bekämpfen will, und schwächt die Sozialpartner, die sie eigentlich stärken will.
Dabei läge die Lösung so nah. Sie bestünde erstens in einer gesteigerten Attraktivität des Flächentarifs. Firmen, die den Flächentarif anwenden, müssten daraus weiteren Nutzen ziehen können, jenseits der bekannten, aber oft nicht als solche erkannten Vorteile. Ein solcher Nutzen kann aber – im Fall tariflicher Öffnungsklauseln – oft nur mühsam erschlossen werden oder kehrt sich mitunter sogar ins Gegenteil um: Wer den Flächentarif anwendet, hat weniger Möglichkeiten als vorher. Und zum Dank werden die Unternehmen, die bereits tarifgebunden sind, in den regelmäßigen Entgelttarifrunden auch noch besonders intensiv bestreikt. Zweitens wären wir weiter, wenn die IG Metall den Begriff der Tarifbindung breiter fassen würde: in der Praxis gesteht sie allenfalls Haustarifen – bestenfalls die Flächenregelungen anerkennend – eine gewisse Existenzberechtigung zu; Ergänzungstarife dagegen werden lediglich als befristet zu ertragende Abweichungen vom eigentlichen Ziel des Flächentarifs hingenommen. Drittens schließlich überschattet die Debatte um die Tarifbindung den eigentlichen Problemkern, wie sich nämlich Großorganisationen neu erfinden müssen, um in gesellschaftlichen und technologischen Umbruchzeiten ihre Bindekraft gegenüber Mitgliedern aus den Generationen Y und Z neu zu begründen.